Katzen sterben. Leseprobe.

Das Schlimmste gleich zu Beginn?

Kann ich eine Erzählung, die von zwei Katzen handelt, gleich mit der schlimmsten Szene, nämlich dem Tod der einen Katze, beginnen? Gefolgt von dem Hinweis, dass die andere Katze schon neun Tage zuvor gestorben ist? Oder vergraule ich damit alle Leser*innen, bevor diese überhaupt ernsthaft mit dem Lesen der Geschichte begonnen haben?

Sollte die Geschichte nicht besser mit lebenden Katzen beginnen? Mit unserem Kennenlernen und unserem anschließenden gemeinsamen Leben? All den wunderbaren Jahren? Mit so vielen wunderbaren Erlebnissen? Und erst dann, wenn Sie die lebenden Katzen so sehr ins Herz geschlossen haben, dass Sie das Buch unbedingt zu Ende lesen wollen, komme was wolle, würde ich unauffällig zu der Feststellung überleiten, dass Katzen auch irgendwann sterben? Und damit das Happy End der Geschichte definitiv eintrüben?

Ich gestehe Ihnen etwas: Mit vielen Romanen und Filmen über Tiere bzw. über die Beziehungen zwischen Tieren und ihren Menschen habe ich genau deswegen Schwierigkeiten. Ich möchte nicht, dass Katzen, Hunde, Pferde und andere Vierbeiner, in die ich mich auf 156 Buchseiten oder in 98 Filmminuten verliebt habe, zum Ende ihrer Geschichte den Löffel abgeben. Und noch viel weniger will ich 156 Seiten oder 98 Filmminuten voller böser Vorahnungen darauf warten, dass sie das tun.

Dennoch: Diese Geschichte, die übrigens eine wahre Geschichte ist, handelt von Katzen, von Liebe, von Tod und von Trauer. Davon, dass das vier handelsübliche Komponenten meines Lebens sind. Komponenten, die ihre Zeit, ihre Bedeutung und ihren Wert haben. Komponenten, an denen ich wachse.

Es gibt kein Leben ohne Sterben. Wer sein Leben mit Tieren teilt, wer seine Tiere liebt, der kann dieser Erkenntnis auf die Dauer nicht aus dem Weg gehen. Dagegen, dass wir im Laufe unseres langen Menschenlebens einige heißgeliebte Tiere leben und auch sterben sehen müssen, hat die Wissenschaft leider noch kein Mittel gefunden.

Nur mal angenommen, wir werden 75 Jahre alt und unsere Katzen, die wir – ebenfalls mal angenommen – schon als Kätzchen bekommen haben und die nicht vorzeitig von einem Auto überfahren oder von Außerirdischen entführt werden, jeweils 15 Jahre. Natürlich alles bei bester Gesundheit und mit einem sanften Tod.

Wenn wir unser Leben lang von Katzen umgeben sind und idealerweise immer von zwei Katzen, dann haben wir, statistisch betrachtet, mit sechzig schon acht Katzen zu Grabe getragen. Ob die letzten beiden Katzen dann vor uns, nach uns oder mit uns das Zeitliche segnen, ist noch nicht geklärt. Und wenn wir nicht jedes Mal wieder mit Jungkätzchen anfangen, sondern uns erwachsene, »gebrauchte«, eventuell sogar kranke Tiere ins Haus holen, dann sterben im Laufe der Zeit leicht noch viel mehr unserer vierbeinigen besten Freunde weg.

Das ist schrecklich. Wieder und wieder. Und trotzdem ist es für die meisten von uns Katzenverrückten keine Option, einfach keine Katze mehr zu haben, um den Kreislauf des Schreckens zu durchbrechen. Wir tun es also wieder: Wir holen uns eine Katze ins Leben und wissen von Anfang an, dass diese Katze sterben wird. Voraussichtlich vor uns. Dass wir wieder trauern werden und vielleicht sogar ein bisschen mitsterben. Dass es schrecklich sein wird, aber auch etwas, das auf eine eigenartige Weise einen Platz in unserem Leben hat.

Wäre es nicht sinnvoll, an diesen Erfahrungen, wenn wir sie denn sowieso machen müssen, wenigstens zu wachsen und zu reifen?

Wenn wir im Laufe der Zeit schon mehrfach den Tod eines ans Herz gewachsenen Tieres erlebt haben, dann können wir meist gar nicht verhindern, den Abschied bei jedem Neubeginn gleich »mit einzuplanen«. Mir jedenfalls geht es so. Ich werde schließlich auch älter und dadurch, dass mir meine eigene Endlichkeit mehr und mehr bewusst wird, sind auch die Endlichkeit meiner Tiere und die im Vergleich kürzere Lebenserwartung zumindest in meinem Unterbewusstsein immer präsent.

Der Abschied von einer geliebten Katze, oder in diesem Fall: von zwei geliebten Katzen, ist schrecklich. Er gehört aber dazu: Ein möglichst guter Abschied stellt auch die Weichen für die Zukunft. Dafür, dass ich die Beziehung, die mein Tier und ich hatten, das gemeinsame Leben, all das Gute (und sogar das weniger Gute), das wir miteinander erlebt haben, auch weiterhin als eine große Bereicherung meines Lebens betrachten und spüren kann. Unsere gemeinsame Zeit ist wertvoll, auch im Rückblick, und zu dieser gemeinsamen Zeit gehört ebenso der Abschied.

Deshalb: Bringen wir es, also das Schlimmste, doch lieber gleich zu Beginn hinter uns. Katzen sterben. Ja, auch die Katzen, die wir lieben. Diesmal direkt am Anfang der Geschichte. Ich lasse Sie an meiner Trauer teilhaben. Das ist ziemlich traurig. Aber dann wird es nach und nach besser und ich erinnere mich an bessere Zeiten. Ich erzähle Ihnen von den wunderbaren Jahren, die ich mit Olga und Ida, meinen Keinzahnkatzen, verbracht habe. Diese Jahre waren den Abschied allemal wert. Vielleicht werden die beiden dann auf 156 Seiten (leider ist noch kein Verkauf der Filmrechte in Sicht) ein bisschen wieder lebendig. Oder sogar unsterblich.

Kapitel 1: Abschied von Ida

»Tut mir leid«, sagt die Taxidisponentin, »aber der Taxifahrer, den wir zu Ihnen geschickt haben, hat gerade gemeldet, Sie seien nicht da gewesen. Da ist er weitergefahren.«

»Das darf ja wohl nicht wahr sein!«, wüte ich und wundere mich dabei nur ein bisschen über mich selbst. Zwar ist es normalerweise nicht meine Art, Taxidisponentinnen oder überhaupt irgendjemanden anzuschreien, aber es ist kalt, dunkel und viel zu spät. Ich habe zwanzig Minuten auf das blöde Taxi, das vor zehn Minuten hier sein sollte, gewartet. Wegen einer nervigen Demo ist der Verkehr in der Hamburger Innenstadt offenbar komplett zusammengebrochen. In der Katzentransportbox, die in meiner Hand langsam schwer wird, die ich aber auf dem kalten Fußboden des Treppenhauses nicht abstellen will, jammert und schimpft Ida. Arme sterbenskranke Ida. Ich bin ebenfalls kurz vorm Schreikrampf.

»Ich brauche aber unbedingt ein Taxi. Ich komme zu spät zum Tierarzt und meine Katze ist sehr krank!«

»Es tut mir leid«, sagt die noch immer geduldige Disponentin, »aber im Moment habe ich leider keinen Wagen in Ihrer Nähe. Sorry, wirklich.«

Ich beende das Gespräch und rufe in der Tierarztpraxis an. Es ist eine Minute vor halb sechs und ich sollte jetzt da sein. Nicht schlimm, dass ich spät dran bin, sagt die Mitarbeiterin vom Empfang. Viele Patienten sind spät dran heute, wegen der Demo. Die Praxis hält ihren Zeitplan auch nicht ein.

Ich sage, ich komme auf jeden Fall. Wartet bitte auf mich. Und versuche, online ein Taxi zu bestellen. Blöde verdammte Treckerdemo. Ist eigentlich seit Stunden vorbei, aber bis diese ganzen Knatterdinger aus der Stadt wieder raus sind, dauert es offenbar länger als die Sternfahrten und die Kundgebung zusammen.

Wenn nur Sebastian hier wäre. Der hat ein Auto und wäre auch gut für meine Nerven. Aber mein Freund lebt in Bremen und hätte wegen der Trecker das Auto heute wohl im Zug nach Hamburg schmuggeln müssen.

Die Onlinebestellung klappt beim zweiten Versuch, ein Wagen ist auf dem Weg zu mir. Hoffentlich hält der Fahrer diesmal auch an.

»Wir schaffen das, Ida, keine Angst.« Unvorstellbar der Gedanke, die kranke Katze wieder nach oben zu tragen und zu wissen, dass wir dann morgen zum Tierarzt müssen. »Und Katrin hilft dir, versprochen.« Kurz überlege ich, ob ich ihr auch versprechen soll, dass wir auf jeden Fall beide zusammen und lebendig wieder nach Hause kommen werden. Lasse es dann. Was weiß ich denn schon?

Vor neun Tagen ist Idas Schwester Olga gestorben. Nach einer längeren Krankheit, mit der sie einige Zeit ganz gut hatte leben können, und einer kurzen heftigen Verschlechterung. Blutzucker, Niere, Bauchspeicheldrüse, Leber – die Organe waren einfach verbraucht. Idas Blutwerte waren nicht besser als die von Olga, aber bis zum letzten Wochenende ging es ihr noch gut. Doch dann hörte sie auf zu fressen. Wir waren und sind uns nicht sicher, ob aus Trauer um ihre Schwester oder aus körperlichen Gründen. Und ich will dem sich breitmachenden Verdacht, dass auch Idas Organe gerade den Geist aufgeben, nicht so viel Raum geben.

Ich kaufte und kochte in den letzten Tagen alle ihre Lieblingsspeisen, holte mir Rat bei Freunden und Fachleuten und versuchte alle Tricks. Ida mochte nicht fressen. Ich besorgte Einwegspritzen, pürierte Futter und Aufbaupräparate und flößte sie ihr ein. Assistenzfütterung nennt man das heutzutage und es ist kein Spaß, weder für die Katze noch für den Menschen. Katrin, die Tierärztin, ist auch nicht begeistert von dieser Zwangsmaßnahme. Sie versteht aber, dass ich zwar ein schlechtes Gewissen habe, wenn ich die Katze zum Fressen nötige, mein schlechtes Gewissen aber noch viel größer ist, wenn ich es nicht wenigstens versuche.

Ida hat verschiedene Medikamente bekommen, aber keins davon vermochte ihren Appetit wiederherzustellen. Auch nicht das Psychopharmakon gestern, die ultima ratio, fürchte ich. Das steigerte zwar ihre Aktivität und ihre Gesprächigkeit, aber nicht ihre Fresslust.

Noch immer hoffe ich, dass es an der Trauer um ihre geliebte Schwester Olga liegt, dass Ida nicht fressen kann. Aber wenn ich mal einen Moment lang klar denke, weiß ich auch, dass es, objektiv betrachtet, nicht gut aussieht für Ida. Meine Seelenkatze Ida.

Das Taxi kommt und wir verlassen endlich das kalte Treppenhaus. Im Auto jammert Ida nicht mehr und die Fahrt dauert nicht lange.

In der Tierarztpraxis ist, obwohl die Sprechstunde rein theoretisch gleich beendet sein sollte, noch einiges los. Ich bin froh, hier zu sein, es ist warm und vergleichsweise gemütlich. Ida sitzt auch relativ ruhig in ihrer Box, maunzt mich aber regelmäßig an. Ich antworte ihr leise und versuche, mich zu entspannen.

Katrin, die Tierärztin, ist schwer erkältet und nicht gut drauf. Dass Ida noch immer nicht gefressen hat, gefällt ihr gar nicht. Sie fragt mich, ob es sein könne, dass Ida nach der Assistenzfütterung einfach nur zu satt ist, aber ich bin sicher, dass das nicht der Fall sein kann. Trotz großer Mühe bekomme ich wirklich nur Notrationen mit der Spritze ins Mäulchen der Katze, von »satt« kann hier sicher nicht die Rede sein.

Ida muss eine weitere Blutabnahme über sich ergehen lassen, sie ist ganz tapfer. Die wichtigsten Parameter können gleich hier, in dem kleinen Labor der Praxis, überprüft werden. Katrin schickt uns zurück ins Wartezimmer, wo wir einer jungen Hündin, die auch Ida heißt und etwas Allergieauslösendes gefressen hat, dabei zusehen, wie sie eine Infu-sion bekommt und davon die Pusteln auf ihrem Körper wieder verschwinden.

Wenn es für meine Ida doch auch eine so schnelle und wirksame Hilfe gäbe…